Die Leichenstarre vor der Linse

Ich kenne meine Grenzen und mache nur das, was ich kann.

Sina begann mit 16 die Lehre zur Fotofachfrau. Statt Familienportraits musste sie da aber Fotos von Verstorbenen abfertigen. Und da sie in einem kleinen Betrieb auf dem Land arbeitete, kannte sie viele der Toten.

Bestattungsunternehmen und Unfallbergungsfirmen sind für junge Lernende eine verbotene Bewerbungszone. Wer will während seiner Lehre denn gerne Leichen verbrennen oder blutüberströmte Opfer von der Strasse kratzen? Eben. Doch was, wenn der Beruf an sich für die Jugendlichen geeignet ist, jedoch die Tätigkeiten die Grenzen von Sitten und Werten überschreiten?

Für Sina*, die ihre Lehre in einem Fotogeschäft in St. Gallen absolvierte, gehörten solche für Minderjährige unangebrachten Inhalte aber zum Alltag. Für Todesanzeigen und Beerdigungen musste die damals 16-Jährige nämlich Bilder von Verstorbenen und Leichen bearbeiten und ausdrucken. Statt sich mit Mamis, denen ihr Familienportrait nicht gefällt, rumzuschlagen, betreute Sina oft trauernde Angehörige. Und das ging ihr nahe.

Ernstnehmen, begleiten und Support anbieten

 «Zuerst war ich natürlich geschockt, ich war nicht wirklich auf Leichenfotos vorbereitet. Aber nach längerem Hinsehen habe ich mich daran gewöhnt», erzählt uns Sina. Der Tod sei ja etwas Natürliches. Die Lehrtochter erzähle keinem ihrer Mitarbeiter von ihren Zweifeln: «Mein Chef war kein sehr vertrauenswürdiger Typ und mit ihm hätte ich nicht darüber sprechen können», sagt Sina. Und einen Schulpsychologen, dem sie sich hätte anvertrauen können, habe es damals an ihrer Schule noch nicht gegeben.

Laut Niklaus Schatzmann, Chef des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes des Kanton Zürichs, gibt es in jeder beruflichen Grundausbildung Bestimmungen zum Jugendarbeitsschutz. Bei der Verteilung der Arbeit hat der Lehrbetrieb den Ausbildungsstand der Lernenden zu berücksichtigen. Zu Sina erklärt Schatzmann: Entscheidender als die Frage, ob die Arbeit richtig verteilt wurde, ist vielmehr die Frage, wie die Lernende begleitet wurde. Hatte sie eine Ansprechperson bei belastenden oder unangenehmen Arbeiten? Konnte sie die Arbeit zurückgeben, wenn sie ihr nicht gewachsen war?».

Und was können Lehrlinge wie Sina also tun, wenn sie statt den Vierbeiner des Kunden abzulichten vielmehr die Leichenstarre Verstorbener vor der Linse haben? Logisch, dem Vorgesetzten, wenn man sich überfordert fühlen. Denn das ist ihr Recht.

Hosten Lehrlinge Pornoseiten?

Die Fotografie ist nicht das einzige Berufsfeld, in dem Lehrlinge mit ungeeigneten Umständen oder Inhalten konfrontiert werden. Ob es wohl auch Informatiklernende gibt, die Websites mit pornografischem Inhalt hosten oder Lehrlinge in Unternehmen, die Bilder von Unfällen durchsehen müssen? Solltest du zu denen gehören oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben, teile uns deine Geschichte in den Kommentaren mit.

*Name von der Redaktion geändert